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Kurzbericht: Advance Care Planning – patientenzentrierte Versorgung am Lebensende. Hospitation in den USA.

Autorin: Kornelia Götze

 

Tagtäglich werden Therapieentscheidungen bei aktuell nicht einwilligungsfähigen Patienten in kritischen Situationen ohne die Kenntnis des Patientenwillens getroffen. Das medizinisch Machbare, Handlungsalgorithmen und Leitlinien der Akutmedizin sind noch immer die führenden Entscheidungshilfen, doch zu welchem Preis? Betroffene, ihre Angehörigen und nicht zuletzt das medizinische Fachpersonal erfahren unter Umständen großes Leid, erstere sogar Körperverletzung.

Um hieraus einen Ausweg zu finden, wurde lange die Verfassung einer Patientenverfügung postuliert, auch durch den Gesetzgeber 2009 explizit gestärkt, jedoch bleiben Patientenverfügungen mit der herkömmlichen Herangehensweise meist wirkungslos. Studien zeigen, dass Patientenverfügungen zu wenig verbreitet sowie, wenn vorhanden, vielfach nicht auffindbar, aussagekräftig oder valide sind und selbst dann, wenn sie vorliegen und anwendbar wären, häufig nicht befolgt werden.

Advance Care Planning (ACP)

Eine Lösung dieses Dilemmas heißt Advance Care Planning (ACP) – zu Deutsch „Behandlung im Voraus planen“ (BVP). Es ist ein umfassendes Konzept, mit dessen Hilfe eine patientenzentrierte Behandlung auch bei akuter, anhaltender oder dauerhafter Nicht-Einwilligungsfähigkeit möglich ist. Therapieziele und Behandlungswünsche werden in einem mehrzeitigen Gesprächsprozess durch professionelle Gesprächsbegleiter mit den Betroffenen erarbeitet und dokumentiert.

Eingebettet ist dieser Prozess in einen strukturellen, regionalen und institutionellen Wandel, der es ermöglicht, dass alle Behandler entlang der Versorgungskette die Wünsche des Patienten kennen und diesen folgen. Im Rahmen des neuen Hospiz- und Palliativgesetzes wurde der Artikel §132 g SGB V verabschiedet und wird in Deutschland ab 2017 eine Finanzierung eines solchen Programmes in Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Eingliederung von Menschen mit Behinderungen ermöglichen. In Deutschland betreten wir hiermit (nahezu) Neuland.

Hospitation bei Respecting choices®, La Crosse und „National Share the Experience“-Konferenz, Milwaukee, USA, 06.09 – 11.09.2016

In La Crosse, Wisconsin, USA wurde seit Ende der 90er Jahre das ACP-Programm Respecting Choices® (RC) entwickelt, implementiert und evaluiert. Es entstand aus dem Wunsch, Angehörigen und Behandlern schwerkranker, nicht-einwilligungsfähiger Patienten etwas an die Hand zu geben, um kritische Behandlungsentscheidungen, häufig über Leben und Tod, im Sinne der Betroffenen fällen zu können. Neben der damit verbundenen Förderung des Respekts vor der Autonomie der Betroffenen verband sich die Hoffnung, dass auch die anderen an dem Prozess Beteiligten weniger emotional belastet würden, was die internationale Forschung seither bestätigt hat.

Das Konzept wurde seit ca. 2005 sowohl in den USA als auch international an vielen Orten übernommen, an die dortigen Gegebenheiten adaptiert (z.B. beizeiten begleiten® – Deutschland) oder auch neu gedacht (Our Voice – Neuseeland). In La Crosse County (133.000 Einwohner) selbst ist Respecting Choices zu einem prägenden Strukturmerkmal des Gesundheitssystems geworden, u.a. gibt es dort derzeit etwa 35 qualifizierte Gesprächsbegleiter („facilitators“, stundenweise bis halbtags) und 2 Koordinatoren (Vollzeit).

 Ziel der Hospitation

Das Ziel meiner Hospitation war es, in La Crosse bei RC® sowie auf der Konferenz in Milwaukee einen Einblick in die aktuelle Praxis dieses Programms und seiner Tochterentwicklungen zu gewinnen, Strategien für eine nachhaltig erfolgreiche Implementierung kennenzulernen und entsprechende Anregungen für die Weiterentwicklung von BVP in Deutschland zu erhalten.

Personenzentrierte Gespräche mit professionellen Gesprächsbegleitern

Das Herzstück von ACP ist die ein- bis zweistündige, mehrzeitige, personenzentrierte Gesprächsbegleitung durch sogenannte facilitators, im Folgenden: Gesprächsbegleiter (GB), welche meist aus den Berufen der Pflege, Sozialen Arbeit und Seelsorge kommen und eine standardisierte Schulung durchlaufen haben. Ich konnte drei Mal miterleben, wie GB reale ACP-Gespräche mit Patienten führten, mich mit einer Sozialarbeiterin in einem Pflegeheim über ihre Erfahrungen mit ACP im Allgemeinen und den Gesprächsbegleitungen im Speziellen austauschen, eine GB bei der Vorbereitung ihres aufsuchenden Gesprächsangebotes begleiten und an einer täglich stattfindenden ACP-Sprechstunde in einem Krankenhaus teilnehmen.

Wesentliche Voraussetzungen für diese Gespräche sind die Empathie sowie eine innere Haltung des GB, die Autonomie des Gegenübers prinzipiell uneingeschränkt zu respektieren und ihn im Sinne eines „shared decision making“ zu einer Entscheidungsfindung zu befähigen.

Auffällig war der erhebliche qualitative Unterschied zwischen den einzelnen GB. Diese Beobachtung bestätigt den bei beizeiten begleiten® eingeschlagenen Weg, eine möglichst hohe Qualität der GB durch eine kompetenzorientierte Vorauswahl, eine intensive Schulung inkl. wiederholter Einzel-Supervisionen im Anschluss an die Schulung bis zur Zertifizierung zu gewährleisten.

Die Durchführung von Gesprächsbegleitungen im Altenheim haben in der besuchen Einrichtung eine hohe Priorität, da es gerade in diesem Setting häufig zu Einbußen der Einwilligungsfähigkeit kommt, welche beträchtliche Folgen für alle Beteiligten haben. Hierin ist eine Bestätigung der Einführung eines solchen Programmes in Altenheimen, wie in Deutschland avisiert, zu sehen.

Das tragende Netz

Die Koordinatorin von RC® arbeitet kontinuierlich in 5 Bereichen: 1. Einbindung der Führungsebenen, 2. Organisationsentwicklung und Implementation, 3. Aus,- Weiterbildung der GB sowie Basis-Fortbildung für alle Mitarbeiter, 4. Öffentlichkeitsarbeit im Sinne der Einbindung und Informationsweitergabe, 5. Qualitätsmanagement und Evaluation.

Die Erfahrungen der RC® Manager zeigen, dass selbst bei diesem seit nunmehr über zwei Jahrzehnten etablierten und weithin bekannten ACP-Programm diese kontinuierliche Arbeit der Projektkoordination dringend geboten ist, um die nachhaltige Wirksamkeit des ACP-Programms zu sichern. Auch im Verlauf der RC® Konferenz in Milwaukee ging es vorrangig um die Diskussion der obengenannten 5 Bereiche, ohne deren Koordination ACP nicht umgesetzt werden kann, da es institutionsübergreifend und multi-professionell konzipiert ist und unerwartet viele Akteure einer Gesundheitsregion betrifft.

Diesen Einblick erachte ich als einen der Wesentlichsten meiner Reise. Für die Koordination gibt es neben der 3-jährigen Erfahrungen des ACP-Projekts beizeiten begleiten® noch keine Erfahrungen und für die derzeit entstehenden regionalen Projekte bedarf es speziellen Schulungen für die Koordination, um diesem weiten Aufgabenfeld gerecht zu werden. Des Weiteren wurde diesem Bereich im Rahmen des Gesetzentwurfes noch nicht ausreichend Beachtung geschenkt, so dass nun im Rahmen der Verhandlungen gemäß § 132g, Abs. 3 noch die Möglichkeit für entsprechende Ergänzungen gegeben ist.

 Den Sprachlosen eine Stimme geben

Im Rahmen meiner Tätigkeit an der Universität Düsseldorf werde ich meine neu erworbenen Kenntnisse direkt in die Konzeption der BVP-Curricula und -Manuale sowie in den Unterricht von Gesprächsbegleitern und Studierenden einbringen können. Auch werde ich meine Erfahrungen für wissenschaftliche Projekte, Artikel und Vorträge nutzen können und nicht zuletzt werden diese auch in die Arbeit der Task Force an der DGP, welche sich für die Erarbeitung von Rahmenempfehlungen für die Verhandlungspartner gemäß § 132g, Abs. 3 gegründet hat, einfließen.

Durch den §132 g SGB V haben wir in Deutschland die Möglichkeit, ACP in Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe behinderter Menschen zu etablieren und Erfahrungen zu sammeln, die uns helfen werden, das Programm künftig noch weiteren Zielgruppen anbieten zu können. Hiermit erhalten wir im internationalen Vergleich bessere Voraussetzungen, da es dort bisher kaum gesicherte Finanzierungen für ACP-Programme gegeben hat. Wir können diese Chance nutzen, um ACP nachhaltig in Deutschland einzuführen und somit auch für nicht-einwilligungsfähige Patienten eine patientenzentrierte Versorgung zu etablieren.

Kornelia Götze, Forschungsschwerpunkt Advance Care Planning, Institut für Allgemeinmedizin, Medizinische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf