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Kurzbericht: Versorgung von Patienten mit ALS von der Aufnahme bis zur Entlassung im häuslichen Bereich. Eine Hospitation in Australien.

Autoren: Dr. med. Johannes Dorst, Sarah Felk, Ellen Keuchel, Falk Schradt, Nathalie Szimeth

 

Die Neurologie  an den RKU – Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm gGmbH ist auf die Behandlung von Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) spezialisiert und gehört diesbezüglich zu den führenden Kliniken in Deutschland. Dies betrifft sowohl die stationäre Versorgung (Diagnosestellung, Beatmung, Anlage von Ernährungssonden, Palliativmedizin) als auch den ambulanten Bereich (Verlaufskontrollen, Zweitmeinungen). Darüber hinaus existiert ein Forschungszentrum für Motoneuronerkrankungen, unter dessen Führung ein nationales Netzwerk aus spezialisierten ALS-Kliniken entstanden ist. Im Rahmen dieses Netzwerks sind eine Vielzahl von multizentrischen, auf höchster Ebene publizierten Studien durchgeführt worden.

Ausgangssituation

Um die Versorgung der Patienten in allen Bereichen zu gewährleisten, werden diese im stationären Bereich von einem interdisziplinärem Team betreut. Darunter gehören u. a. die Bereiche Ergo-, Physio- und Atemtherapie, Logopädie, Ärzte und die Pflege. Bei der ALS handelt es sich um eine chronisch fortschreitende und nach einer mittleren Lebenserwartung von ca. 3 Jahren stets tödlich endenden Nervenerkrankung, in deren Verlauf es zu einer sukzessiven kompletten Lähmung der gesamten Willkürmuskulatur kommt. Dies führt zu einer völligen Immobilisierung der Patienten, darüber hinaus aber auch zur Unfähigkeit zu schlucken oder zu sprechen sowie zu einer massiven Atemstörung, so dass im Verlauf verschiedene Maßnahmen notwendig werden, die einer multidisziplinären Versorgung bedürfen, wie z. B. einer invasiven oder nicht-invasiven Beatmung oder der Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG). Im ambulanten Bereich fehlt bisher die multiprofessionelle Betreuung.

Gastgebende Einrichtungen

Die zweiwöchige multiprofessionelle Teamhospitation fand im Januar/Februar 2017 in Sydney vor allem in der Macquarie University Clinic und im St. Joseph’s Hospital satt. Ersteres ist das größte ALS-Zentrum Australiens und ein Vorreiter hinsichtlich multidisziplinärer Versorgung, womit sie in exzellenter Weise als Modelleinrichtung für unser Projekt geeignet ist. Im Gegensatz zur Macquarie University Clinic handelt es sich beim St. Joseph’s Hospital um ein staatliches Krankenhaus, dessen Leistungen staatlich finanziert werden und jedem Patienten offensteht. Die Schwerpunkte liegen in den Bereichen Motoneuronerkrankungen, Palliativmedizin und Rehabilitation.

Ziel der Hospitation

Ziel der Hospitation war unter anderem, sich neue Strukturen und Abläufe für den ambulanten Bereich anzuschauen. In Australien werden die Patienten mit ALS hauptsächlich ambulant betreut und versorgt, sie werden nur zu speziellen Eingriffen und Anpassungen in die jeweiligen Kliniken mit den spezifischen Fachbereichen eingewiesen. Die Struktur der Ambulanz war sehr interessant, weil eine interdisziplinäre Zusammenarbeit stattfindet, indem jeder Fachbereich die Patienten besucht und am Ende im Team eine gemeinsame Versorgung für den Patienten besprochen wird.

v.l.n.r.: Sarah Felk, Ellen Keuchel, Dr. Johannes Dorst, Nathalie Szimeth, Falk Schradt / Bild: Ellen Keuchel

v.l.n.r.: Sarah Felk, Ellen Keuchel, Dr. Johannes Dorst, Nathalie Szimeth, Falk Schradt / Bild: Ellen Keuchel

Ergebnisse

Es lassen sich u. a. folgende wesentliche Ergebnisse aus der Hospitation zusammenfassen:

  1. Eine multiprofessionelle Ambulanz nach dem Vorbild der Macquarie Clinic ist ein ausgezeichnetes Vorbild für eine ganzheitliche, multiprofessionelle und effektive Versorgung von ALS-Patienten und könnte – eine entsprechende Finanzierung vorausgesetzt – in ähnlicher Form in Ulm implementiert werden.
  1. Besonders vorteilhaft erscheinen dabei folgende Aspekte:
  • patientenzentriertes Arbeiten mit Raumwechsel der Therapeuten
  • direkte digitale Dokumentation
  • anschließender multiprofessioneller Austausch
  • gemeinsame Erstellung eines Briefs
  • Zustellung des Briefes nicht nur an Patient und Hausarzt, sondern auch an die Therapeuten
  1. Es bestehen in Deutschland im Vergleich zu Australien erhebliche Defizite in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Einwerbung von Spendengeldern.
  1. Die Implementierung eines übergeordneten, in der ALS erfahrenen Koordinators, der den Patienten zuhause besucht, die individuellen Bedürfnisse ermittelt und die verschiedenen Versorgungsleistungen in die Wege leitet, führt in Australien dazu, dass jeder Patient direkten und schnellen Zugang zu spezialisierten Leistungen erhält.
  1. Das australische System zur Bereitstellung von Hilfsmitteln ist zeit- und kosteneffizient, ist allerdings mit Einbußen in der Hilfsmittelqualität verbunden.
  1. Die bessere Finanzierung therapeutischer Leistungen durch das deutsche Gesundheitssystem führt dazu, dass eine aktive Beübung von Patienten durch professionelles Personal in Deutschland – im Gegensatz zu Australien – möglich ist, dass auch schwer kranke Patienten ambulant durch Intensivpflegedienste versorgt werden können und dass spezifische, sehr teure Maßnahmen, wie z. B. die invasive Beatmung über Tracheostoma, in Deutschland durchgeführt werden können, aber nicht in Australien.
  1. Hinsichtlich der stationären multiprofessionellen Versorgung von ALS-Patienten übertrifft der Ulmer Standard – im Gegensatz zur ambulanten Versorgung – den australischen.
  1. Eine engere wissenschaftlichere Zusammenarbeit, beispielsweise im Bereich der Genetik, sollte angestrebt werden.

Transfer

Abgeleitet aus den genannten Punkten erscheinen zunächst folgende Schritte zur Verbesserung der Patientenversorgung realistisch:

  • Neuorganisation der Spezialambulanz unter verstärkter Einbeziehung der verschiedenen Berufsgruppen und Einbeziehung bisher nicht beteiligter Berufsgruppen wie z. B. Sozialdienst und Ernährungsberatung
  • Koordination der multiplen Disziplinen durch einen Koordinator
  • Patient bleibt in einem Raum, Therapeuten rotieren
  • direkte digitale Dokumentation
  • abschließende interdisziplinäre Diskussion und Brieferstellung
  • im stationären Bereich: Teilnahme der Therapeuten an der Oberarztvisite
  • Dokumentation therapeutischer Arbeit im stationären Dokumentationssystem und Möglichkeit der Einsichtnahme dieser Dokumentation für andere Therapeuten
  • verstärkte Öffentlichkeitsarbeit zum Thema ALS
  • vermehrte Organisation von Veranstaltung zum Einwerben von Spendengeldern

 

Dr. med. Johannes Dorst, Oberarzt in der Neurologie, RKU Universitäts- und Rehabilitationsklinikum Ulm

Sarah Felk, Ergotherapeutin in der Neurologie für ALS, RKU Universitäts- und Rehabilitationsklinikum Ulm

Ellen Keuchel, Atmungstherapeutin in der Neurologie, RKU Universitäts- und Rehabilitationsklinikum Ulm

Falk Schradt, M.Sc., Logopäde in der Neurologie, RKU Universitäts- und Rehabilitationsklinikum Ulm

Nathalie Szimeth, Gesundheits- und Krankenpflegerin in der Neurologie, RKU Universitäts- und Rehabilitationsklinikum Ulm